Wenn die Seele streikt
Bei Schülerinnen und Schülern und jungen Erwachsenen hat die Corona-Pandemie unübersehbare Spuren hinterlassen, besonders bei jenen, denen die Schule ohnehin etwas schwerer fällt.
Diese Jugendlichen brauchen eine spezielle und intensive pädagogische Betreuung. Corona-bedingte Defizite äußern sich bei Lerninhalten, der Lernfähigkeit und der Berufsorientierung – vor allem in Abschlussklassen. Zur allgemein schon schwierigen Lage auf dem Ausbildungs- und Berufsmarkt bahnen sich nun schleichend und weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit weitere Komplikationen beim Übergang von Schule zu Ausbildung und Beruf an. Lautstark meldet sich die Psyche vieler Schulabgänger:innen und jungen Menschen und blockiert so massiv das berufliche Weiterkommen.
„Wir dürfen nicht länger zuschauen, sondern müssen dem Thema Kinder- und Jugend- gesundheit endlich mehr Gewicht geben und handeln“, sagt DAK-Chef Andreas Storm im Frühjahr und fügt hinzu: „Es geht um die Gesundheit einer ganzen Generation“. In ihrem Kinder- und Jugendreport 2022 hatte die Krankenkasse eine deutliche Steigerung von Depressionen und Essstörungen bei Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren registriert. Ein Jahr zuvor war die Barmer-Krankenkasse in ihrem „Arztreport 2021“ zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Sie hatte untersucht, in welchem Ausmaß die Verordnung ambulanter Psychotherapien bei Kindern und Jugendlichen zwischen 2009 und 2019 zugenommen hat. Zu den häufigsten Anlässen für eine Therapie zählen „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“ (23 Prozent), „Depressionen“ (18,4 Prozent) und „Angststörungen“ (14,5 Prozent). Im Jahr 2019 haben nach Angaben der Barmer insgesamt 823.000 Kinder und Jugendliche eine „Therapie im erweiterten Sinne“ absolviert.
Die Psyche spielt nicht mit
Für Friederike Erbe von der Jugendagentur Heidelberg deckt sich der Befund der Krankenkassen mit ihrer beruflichen Praxis. Sie ist eine von 20 Mitarbeiter:innen der Jugendagentur, die sich professionell mit Sorgen und Nöten von jungen Menschen befasst , vor allem aber auch damit, für junge Menschen einen möglichst reibungslosen Übergang von der Schule zur beruflichen Ausbildung zu schaffen. Friederike hat ein Studium zur Sport- und Erziehungswissenschaftlerin M.A. absolviert und arbeitet schon 18 Jahre bei der Jugendagentur.
„Vor etwa zehn Jahren war unsere Arbeit in der Jugendagentur noch recht überschaubar. Es ging vor allem darum, Bewerbungsschreiben und Lebensläufe zu optimieren und den jungen Menschen einen guten Überblick für ihre beruflichen Laufbahnen zu geben“. Doch das habe sich inzwischen drastisch geändert, so Erbe. „Etwa zwei Drittel der jungen Erwachsenen, die heute zu uns ins Casemanagement kommen, sind aus unterschiedlichen Gründen nicht ausbildungsreif“.
Zu immer größeren Teilen liegt das nicht nur an schulischen Lerndefiziten, die sich im Laufe der Corona-Pandemie noch angehäuft haben. Vielmehr erkennt sie, dass bei einem wachsenden Teil ihrer Teilnehmer:innen psychische Probleme überhandnehmen. Und ohne eine psychotherapeutische Therapie, so Erbe, gehe es bei vielen Jugendlichen nicht weiter. Sie seien weder vermittlungs- noch ausbildungsfähig. Erstberatungsstellen wie das Institut für Medizinische Psychologie der Universität Hei- delberg oder die Psychologische Beratungsstelle Heidelberg können relativ kurzfristig Termine für ein bis drei erste Therapiegespräche anbieten. Doch anschließend erhalten die jungen Menschen einige für ihre Situation passende/n Therapeut:innen genannt, die in der Regel aufgrund der hohen Nachfrage nicht mal eine Warteliste führen.
So bleibt oftmals die psychische Belastung – mit oder ohne Krankheitsdiagnose – die Ursache für den beruflichen Stillstand. Im dichten Netz der Jugend- und Berufshilfe Die Jugendagentur Heidelberg ist ein gemeinnütziges, genossenschaftlich organisiertes Unternehmen in der Jugend- und Berufshilfe. Sie unterstützt Jugendliche und junge Er- wachsene beim Übergang von der Schule in den Beruf mit persönlicher Beratung und Netzwerkarbeit. Bei Bedarf begleitet sie Jugendliche und junge Erwachsene auf ihrem Weg in ein eigenständiges Leben. Die Agentur beschäftigt 20 Menschen in Voll- und Teilzeit, die übers Jahr hinweg etwa 800 Jugendliche auf ihrem Weg in Ausbildung und Beruf betreuen. Etwa zwei Drittel ih- rer Klientel kann die Jugendagentur entweder in ein Ausbildungsverhältnis vermitteln oder zumindest in weiteren Fördermaßnahmen unterbringen.
Dabei ist die Kompetenz der Übergangshilfen der Jugendagentur mit der Zeit immer weiter gestiegen, die Vernetzung mit anderen Jugendhilfeeinrichtungen aus der Region ist dichter geworden. Der Blick auf die lokalen und regionalen Kooperationen der Jugendagentur zeigt, wie groß das Netzwerk der Jugend- und Berufshilfe ist. So kooperiert die Jugendagentur mit Jugend- und Sozialämtern, dem regionalen Bil- dungsbüro, Fachdiensten und Behörden, der Agentur für Arbeit und den Jobcentern, Trägern der Jugend- und der Jugendberufshilfe, sozialen Beschäftigungsunternehmen, Bildungsträgern, kulturellen Einrichtungen, dem Jugendmigrationsdienst, Migrantenorganisationen, Beratungsstellen, Stiftungen und Unternehmen. Außerdem existiert natürlich ein dichtes lokales und regionales Kooperationsnetz mit Gemeinschafts-, Real- und Berufsschulen. Jugendliche mit Beratungsbedarf kommen über Empfehlungen von Behörden oder Schulsozialarbeiter:innen.
Und die Corona-Pandemie hat die Netzwerkknoten noch gestärkt und weitere Unterstützungsprogramme hervorgerufen, finanziert von Stadt, Land und EU. Doch der Anstieg psychischer Erkrankungen bei hilfesuchenden Jugendlichen ist vom Team der Jugendagentur aus eigenen Mitteln kaum noch zu bewältigen. Oft brauchen Jugendliche eine professionelle Psychotherapie, bevor sie in einem der mehr als zehn Jugendagentur- Programme ihre beruflichen Perspektiven entwickeln können. Psychotherapeutische Betreuung von Jugendlichen Zwar ist Heidelberg insgesamt bekannt für eine gute psychotherapeutische Allgemein- versorgung – doch mit konkreten Therapieplätzen für Jugendliche oder junge Erwachsene hapert es. Die Suche nach Therapeuten, die sowohl Therapieplätze anbieten können als auch Erfahrung im Umgang mit einer jugendlichen Klientel haben, gestaltet sich schwierig und langwierig. Immerhin können aufgrund der extrem langen Wartezeiten von Therapeuten mit Kassenzulassung seit einiger Zeit auch diejenigen, die nur privat abrechnen, Psychotherapien über eine gesetzliche Krankenkasse abrechnen.
Der bürokratische Aufwand ist allerdings sehr hoch und für das Klientel der Jugendagentur nur mit Unterstützung zu erreichen. Trotzdem erhöht diese Möglichkeit zumindest die Anzahl von Psychotherapeuten, die für eine Betreuung von Jugendlichen potenziell in Frage kommen. Doch auch das ist wohl keine ausreichende Lösung für die Zukunft. Damit bleibt in Heidelberg und Umgebung die psychotherapeutische Versorgung von Jugendlichen zumindest im Moment noch ungeklärt. Neue Ideen, Ansätze der therapeutischen Versorgung sind gefragt. Mit Blick auf die Daten des DAK-Kinder- und Jugendreports fordert Professor Dr. Wieland Kiess, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Uniklinikum Leipzig: „Das Gesundheitswesen sollte durch die Veränderungen in Krisenzeiten, wie einer Pandemie, reorganisiert und die Organisationsformen dringend überdacht werden. Die Trennung zwischen ambulanten und stationären Behandlungs- und Betreuungskonzepten ist falsch und nicht mehr zeitgemäß.
Wir müssen Versorgungsformen neu denken und Versorgungsstrukturen dem Bedarf der Kinder und Jugendlichen heute und in der Zukunft anpassen.“
Text: Redaktionsbüro Ecken, Heidelberg
Christoph Ecken